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zu den Wurzeln der Popmusik
MP3
und Download, iTunes und Soundcloud, die Zeiten eines Plattenspielers scheinen
lange vorbei zu sein. Und doch, es gibt noch die begeisterten Freunde des alten
Klanges. Wie sonst sollte man erklären und verstehen, dass sich drei
Musikbegeisterte für ein Projekt zusammen getan haben, daran mehrere Jahre
arbeiteten und dann auch noch eine Plattenfirma fanden, die dieses umfangreiche
Werk veröffentlichte.
Und
umfangreich ist “Black Europe – The sounds and images of black people in Europe
pre-1927”: 44 Cds und zwei gebundene Bücher. Dokumentiert werden Tonaufnahmen
und die Geschichten von Schwarzen in Europa vor 1927. “Ich mußte einen
"Cutoff" definieren, sonst wäre das Werk endgültig unbezahlbar
geworden”, erklärt Rainer Lotz, einer der drei Musikärchäologen. “Ich spielte
zunächst mit der Idee, den 1.Weltkrieg als Cäsur zu nehmen. Aber gerade diese
Jahre waren eine Periode gravierender Umwälzungen, insbesondere durch die
Entstehung und Verbreitung von Blues und Jazz. Also nahm ich die
Aufnahmetechnik: Einbeschlossen werden alle Aufnahmen, die vor der Verwendung
des Mikrophons akustisch "durch den Trichter" gemacht wurden.”
Manches klingt auch
wirklich so, wie “durch den Trichter”, doch “Black Europe” ist eine Dokumentation
von historischem Wert. Und das gleich in vielerlei Hinsicht. Es kratzt und knistert
manchmal bis zur Unhörbarkeit, man fragt sich, wer das hören will. Viele werden
es nicht sein, denn diese Box ist auf 500 Exemplare weltweit limitiert. Es gibt
noch nicht einmal Rezensionskopien, auch als Journalist muß man den
beachtlichten Betrag von 499 Euro hinlegen.
Und dennoch “Black Europe” ist ein Meisterwerk, das beachtet werden muß.
Die drei Autoren Jeffrey Green, Dr. Rainer Lotz und Howard Rye haben in zehn Jahren
Kleinstarbeit Archive und Privatsammlungen in ganz Europa und in Übersee
durchforstet. Alle drei befassen sich schon Jahrzehnte als Sammler und
Wissenschaftler mit diesem Themenbereich, wußten also, wo sie mit dem Suchen
anfangen mußten. Man ahnte vom Umfang der Aufnahmen, hatte aber keinen
Überblick, wie viele der Ton-Dokumente weltweit überlebt hatten, und in welchem
Zustand sie waren. Auf was die Autoren immer wieder stießen, waren die
Bereitschaft und die Begeisterung von Sammlern und Archiven, diese Box zu
vervollständigen. Zum großen Teil wurde alles kostenfrei zur Verfügung
gestellt, ansonsten wäre diese Edition wohl nie zu finanzieren gewesen.
Es dauerte und dauerte, bis die 44 CDs mit insgesamt 56 Stunden,
26 Minuten und 27 Sekunden Tonaufnahmen endlich gefüllt waren. Aber, so
sagen die Autoren, man habe wohl nahezu alle Aufnahmen aus dieser Zeit gefunden
und klanglich von den Originaltonträgern aufbereitet. Hinzu kommen zwei
umfangreiche Bücher, in denen nicht nur auf jede einzelne Aufnahme eingegangen
wird, es wurden auch Unmengen an Bildmaterial zusammen getragen: Die Fotos
zeigen die Künstler, die man hier hören kann, aber auch Auftrittsorte,
Platten-Cover, Konzertplakate und und und …
Auf “Black Europe” geht es nicht nur um Musik. Die
Autoren haben auch in Archiven von Museen, wie dem Völkerkunde Museum in
Berlin, nach Tönen gesucht. Dort stießen sie zum Beispiel auf Sprachaufnahmen
aus dem Jahr 1904, die von Ludwig Anzaklo, einem in Deutsch-Togo geborenen und
für ein paar Jahre in Tübingen lebenden Mann eingesprochen wurden. Die Sprache
ist Ewhe, heute fast vergessen. Aufgrund der kolonialen Vergangenheit einiger
europäischer Länder wurde Anfang des 20. Jahrhunderts versucht, Sprache und
Gesang der afrikanischen Volksgruppen aufzuzeichnen. Die Königlich Preußische
Phonographische Kommission stieß dabei auf ein Füllhorn von Möglichkeiten,
direkt im eigenen Land. Zwischen dem 29. Dezember 1915 und dem 19. Dezember
1918 wurden insgesamt 2677 Aufnahmen von rund 250 Sprachen, Dialekten und traditioneller
Musik in den Kriegsgefangenenlagern des Deutschen Reiches gesammelt, wie dem
Internierungslager Wünsdorf, 40 Kilometer südlich von Berlin: von gefangenen
Soldaten, die in den Kolonien gegen den Kaiser kämpften, oder an der Seite der
Kolonialmächte in Europa eingesetzt und als Gefangene nach Deutschland gebracht
wurden. Jahrzehntelang wurde dieses enthnographische Material – aufgenommen auf
Wachszylindern – geheim gehalten. Nun ist es zum ersten Mal zugänglich gemacht
worden.
All diese Aufnahmen chronologisch zu hören, ist nahezu unmöglich. Man muß
gezielt vorgehen, durch die beiden Bücher blättern und sich jene Geschichten
und Töne heraussuchen, die einem als Hörer interessant erscheinen. Da sind
etliche der “Missing Links” zu finden, gerade im Bereich des Jazz. Wie die
Geschichte des Drummers Louis Mitchell, der zweifelsohne mit seinen Jazz Kings
zu den Begründern des Jazz gehörte, lange bevor Fletcher Henderson oder Louis
Armstrong, die als Pioniere gelten, überhaupt bekannt wurden. Mitchell tourte
sowohl in den USA wie auch in Europa.
Europa war ein Hauch von Freiheit für afro-amerikanische Künstler und
Musiker. Hier durften sie Platten aufnehmen, was ihnen weitgehend in Amerika
verwehrt blieb. Es gab Auftrittsmöglichkeiten, die Tourneen wurden gesponsert
und beworben, und Schwarze mußten in London, Paris, Kopenhagen, Amsterdam oder
Berlin nicht durch die Hintertür zu ihrem eigenen Konzert gehen. Und es wurde
breit über die Auftritte und Aufnahmen, die Filme und Ereignisse in den
Zeitungen berichtet. Diese Artikel kamen dann auf Umwegen in die USA, wo sie
von den schwarzen Zeitungen und Magazinen wiederveröffentlicht wurden, was dazu
führte, dass mehr und mehr afro-amerikanische Musiker und Gruppen den langen
Weg über den großen Teich antraten. Sie fanden in Europa die Arbeit, die
Möglichkeiten und die Bedingungen, die ihnen
in der rassistischen Zweiklassengesellschaft der USA Anfang des 20.
Jahrhunderts verwehrt blieben.
“Black Europe – The sounds and images of black people in Europe pre-1927”
ist ein Hörbuch der etwas anderen, der besonderen Art. Hier werden längst
vergessene Geschichten wiedererzählt oder nicht Bekanntes in einem passenden
Rahmen vorgetragen. Diese Box zeigt auch die Bedeutung und den Anteil schwarzer
Musiker und Künstler in den Anfängen der Popmusik in Europa. Nach jahrelanger
Kleinarbeit an diesem Projekt kommen die Autoren zu der Erkenntnis, dass es die
einmalige “Verwirklichung eines Lebenstraums” war.
Neben der umfangreichen Box ist auch noch eine 3-CD Box unter dem Titel „ Over There! Sounds And Images From Black Europe” zum
Preis von 39,90 Euro bei Bear Family Records erschienen.