Amerika ist das Land der Einwanderer. Und doch wurde lange Zeit
bewusst und unbewusst übersehen, dass die Immigranten ihre eigene Kultur
und Sprache mit in die Neue Welt brachten und diese auch pflegten. Seit
einiger Zeit beginnt man in die USA auf den kulturellen und ethnischen
Reichtum zu blicken, der durch die Einwanderer ins Land kam. Jüngst
wurde eine umfassende CD Box mit dem Titel “Folksongs of another
America” veröffentlicht, die sich auf die Region des Mittleren Westens
konzentriert.
Sidney Robertson war eine von drei Musikethnologen,
die in den späten 30er und Anfang der 40er Jahre versuchten, die
reichhaltigen Musikwurzeln der Upper Midwest Region in den USA zu
dokumentieren. Neben ihr reisten noch Alan Lomax ("The man who recorded
the world") und Helene Stratman-Thomas durch Wisconsin, Minnesota und
die UP, die Upper Peninsula, of Michigan.
Es sind Feldaufnahmen,
die eine Region Amerikas präsentieren, wie sie so noch nie zu hören war.
Zusammengefasst sind sie nun als “Folksongs of Another America” bei
Dust to Digital Records erschienen. Professor James Leary von der
University of Wisconin in Madison steckt hinter dieser Veröffentlichung,
an dem er fast zehn Jahre lang arbeitete: "Das Projekt, an dem Alan
Lomax, Stratman-Thomas und Sidney Robertson involviert waren, war, den
Wert der Kulturvielfalt und des Pluralismus zu zeigen. Ich denke, sie
haben auch erkannt, dass nach ein paar Generationen die Kinder und Enkel
nicht mehr die Sprache sprechen. Es gibt also noch diesen kritischen
Moment, wenn man in der Lage ist, dieses Material zu sammeln."
Wer
von der amerikanischen Folk Music spricht, denkt vor allem an die
englischsprachigen Lieder. Doch Amerika, das zeigt vor allem die Upper
Midwest Region, hat viel mehr zu bieten. James Leary weiß, dass lange
Zeit die fremdsprachigen Lieder der Einwanderer nicht beachtet wurden,
auch wenn sie von den drei Musiksammlern für die Library of Congress
schon früh aufgezeichnet wurden. Von Seiten der Regierung wurde jedoch
ein “English only” ausgegeben, die Songs verschwanden im Archiv. 75
Jahre später wollte Leary jedoch zeigen, dass Amerika ein Land der
kulturellen Sprachenvielfalt ist: "Für mich sind American Indians
Amerikaner. Viele der frühen Siedler in den Vereinigten Staaten, bevor
das Land überhaupt eine Nation wurde, sprachen eine andere Sprache als
Englisch. Deutsch, Holländisch, Schwedisch, diese Sprachen sind genauso
legitim. Und auch in meiner Heimatregion hörte man viele verschiedene
Sprachen. Ich denke also, es ist sehr wichtig, diese Lieder als
amerikanische Lieder zu präsentieren und sie denen vorzuhalten, die
glauben, jeder sprach hier sofort Englisch und, dass nur das Englische
das richtige ist.
Alan Lomax, Sidney Robertson und Helene
Stratman-Thomas haben in mehreren Reisen in einem Zeitraum von acht
Jahren mehr als 2000 Aufnahmen zusammen getragen. Leary hat auf
“Folksongs of another America” 186 Lieder ausgewählt, die repräsentativ
für die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Gegend sind. Das reicht
von finnischen bis serbischen Songs, von französichen bis litauischen,
dänischen, walisischen, polnischen, luxemburgischen, schweizer und
deutschen Liedern, wie eine Aufnahme von Herman Meyers, Was war an
diesem Baum?, vom September 1938, aufgezeichnet von Alan Lomax.
James
Leary arbeitete jahrelang an dieser Veröffentlichung. Er bereinigte
digital die alten Aufnahmen und trug viele Informationen zusammen, die
in den Original Notizen der drei Ethnologen nicht vorhanden waren. Er
suchte nach Fotos für das Begleitbuch, kontaktierte Nachfahren der
Musiker und übersetzte alle fremdsprachigen Lieder mit Hilfe von
Kollegen anderer Fremdsprachenabteilungen der University of Wisconsin.
Eine Ausnahmeleistung, die jedoch erst den ganzen Wert des
Kulturmischmaschs des oberen Mittleren Westens für den Hörer zugänglich
macht. Und obwohl man hier nur alte Aufnahmen hört, ist die eigentliche
Botschaft dieser visionären Arbeit aus den 30er und 40er Jahren für
James Leary klar: "Heute sorgt man sich in Amerika über die
Einwanderung, was die Immigranten mitbringen und ob sie überhaupt ins
Land gelassen werden sollen. Und genauso ist es ja auch in Europa. Ich
finde, diese Lieder zeigen, dass Neuankömmlinge in einem Land, auch wenn
sie Teile ihrer Sprache, ihrer Kultur und Tradition behalten, zur
gleichen Zeit offen sind und etwas im positiven Sinne beisteuern. Wenn
man sich das ansieht, wie es damals war, kann das eine gute Lektion für
heute und morgen sein."
Die 5CD und eine DVD umfassende Sammlung “Folksongs of another America” ist bei Dust to Digital Records erschienen.