Dienstag, 31. August 2021

Various Artists – The Harry Smith B-Sides

 



Various Artists – The Harry Smith B-Sides




Erscheinungsjahr: 2020



Doch es gibt auch gute Nachrichten, zumindest solche, die mir wieder näherbringen, wie großartig die Vereinigten Staaten von Amerika sind. Ich liebe Musik, meine erst 45er kaufte ich als Zehnjähriger, kurz darauf meine erste Langspielplatte, damals im Nürnberger Hertie. Über die Jahre wandelte sich mein Geschmack, klar, was ich lieben lernte, waren historische Aufnahmen. Und da sind die USA eine klangliche Goldkammer, denn hier kann man Originalplatten genauso finden, wie hervorragende Wiederveröffentlichungen.

1952 erschien die “Anthology of American Folk Music”. Eine Sammlung amerikanischer Folk Musik, die Harry Smith auf Folkways Records herausbrachte. Musik, die zwischen Ende der 20er und bis Mitte der 30er Jahre auf 78er Schellackplatten veröffentlicht worden war. Diese “Anthology” wurde als “the founding document of the American folk revival” (Greil Marcus) gefeiert, jene Initialzündung für die große Zeit der Folkmusik in den 50er und 60er Jahren, man denke an Pete Seeger, Bob Dylan, Joan Baez und viele andere. Smiths Veröffentlichung beschreibt sicherlich nicht den gesamten amerikanischen Folk Musikbereich.

Vieles wurde ganz ausgelassen, zum Beispiel die Musik der Immigranten, die für sich die frühen Anfänge des Blues, des Country, der Cajun Musik beeinflussten. Aber das sind Feinheiten, die “Anthology of American Folk Music” war und ist eine herausragende Veröffentlichung des 20. Jahrhunderts, die 1997 erneut auf Folkways als CD Box erschienen ist.

Nun hat das kleine, aber sehr feine Independent Label “Dust to Digital” aus Atlanta in jahrelanger Kleinstarbeit die B-Seiten Anthology zusammengestellt. Smith hatte damals die A-Seiten von 78ern genutzt, “Dust to Digital” bringt jetzt die B-Seiten all dieser allen Scheiben heraus. Es ist wie die Vollendung eines Kreises, ein breiteres, ein umfassenderes Klangbild entsteht, dazu die vielen Geschichten und Einordnungen der Musik, der Songs und ihrer Musikerinnen und Musiker, die zum Teil auf Harry Smiths Anthology fehlten. Und ja, nicht alle B-Seiten wurden in dieser 4 Cd Box veröffentlicht, denn einige der Songs waren aus heutiger Sicht mehr als problematisch, offen rassistisch, beleidigend. Also entschloss man sich in letzter Minute, vier Songs aus der Liste zu streichen, und das, obwohl die Paletten mit dem fertigen Produkt im Druckwerk schon zur Auslieferung bereit standen.

Die Reaktionen kamen prompt, das sei eine Neuschreibung der Geschichte, eine “cancel culture”, eine Veränderung von Smiths Originalwerk. Doch davon wollten die beiden Labelbesitzer, Lance und April Ledbetter, nichts hören. Sie wollten einfach nicht in die Situation kommen, dass ihre CD öffentlich in Kneipen oder Cafes gespielt wird und dann problematische Texte erklingen. Da helfe kein “Warning Sticker” auf der Verpackung, keine erklärenden Worte im Begleitbuch, so die beiden. Und April Ledbetter fügt noch hinzu: “We like libraries, but we don’t work at one”, wir lieben Büchereien, aber wir arbeiten in keiner. Als Label habe man eben die Freiheit, nicht eine geschichtliche Vollständigkeit verfolgen zu müssen, sondern eben die Lehren aus der Geschichte ziehen zu können.

Die vier fehlenden Songs tun der Box “The Harry Smith B-Sides” keinen Abbruch. Wer die “Lost Tracks” dennoch haben will, findet sie problemlos online. Es ist erneut eine hervorragend recherchierte, historische Liedersammlung des kleinen Labels, das erst 2003 mit der ersten Veröffentlichung “Goodbye Babylon” auftauchte und seitdem nicht mehr übersehen werden kann. “Dust to Digital” wurde seitdem mehrmals für Grammys nominiert und ausgezeichnet.

Die jüngste Box ist ein Eintauchen in die bewegende, reiche, tiefe Musikwelt Amerikas. “Back to the roots”, beeindruckend aufbereitet, klanglich wie inhaltlich. Selbst 68 Jahre nach der Veröffentlichung der Harry Smith Anthology ist die Musik noch immer mitreißend, erfrischend und einfach gut. Die B-Seiten sind alles andere als ein B-Auswahl, hier spielen Musikerinnen und Musiker mit Herz und Seele, “handmade”, direkt und unmittelbar. Wer in diesen verrückten und unvereinten Tagen, Wochen und Monaten mal wieder etwas sinnvolles und sinnerfüllendes aus Amerika erfahren möchte, der sollte sich diese Sammlung anhören.